Sind Frühgeborene irgendwann keine Frühgeborenen mehr?

Gerade in diesem Bereich hat die Neugeborenenmedizin im Laufe der Jahrzehnte beeindruckende Fortschritte gemacht. Es wird intensiv daran geforscht, welche Umstände dazu führen, dass selbst extrem früh geborene Kinder ohne nennenswerte gesundheitliche Folgen aufwachsen können. Sehr viele Komponenten spielen dabei eine Rolle, wie z.B. die Stärkung des noch anfälligen Immunsystems, die Anpassung von Versorgungsmaßnahmen an die Bedürfnisse der winzigen Patienten und -was immer mehr an Bedeutung gewinnt- auch die Rücksichtnahme auf ihre psychische Befindlichkeit – trotz intensivmedizinischer Behandlung. Ein Schlüssel dazu ist das Verständnis für feinste Signale, die Frühgeborene durchaus zeigen. Die Marte Meo Methode ist eine der hilfreichen Möglichkeiten für alle unmittelbar Beteiligten auf einer neonatologischen Intensivstation, darauf einzugehen und einen entwicklungsfördernden Kontakt zu Frühgeborenen herzustellen. Diesen Beziehungs- und Bindungsaufbau brauchen sie als Fundament für ihre Entwicklung und besonders für ihre spätere mentale Gesundheit. 

Wie wichtig das alles ist, machen zahlreiche Schilderungen von Frühgeborenen deutlich, die inzwischen erwachsen sind und sich für ihre Geburtsumstände interessieren. Vor mehr als 30 Jahren stand die medizinische Versorgung absolut im Fokus, was das Leben vieler Frühgeborener noch heute prägt. Besonders anfangs sehr unreife Frühgeborene spüren Auswirkungen in unterschiedlicher Intensität wie z.B. Trennungs- und Versagensängste, Hochsensibilität und besonderes Schmerzempfinden, niedriges Belastungsprofil bei körperlichen und kognitiven Leistungsanforderungen und auch oft sozialemotionale Probleme. Das wiederum kann zu Mobbingerfahrungen führen, was soziale Rückzugstendenzen noch verstärkt. Derartige Belastungen tragen viele Betroffene mit sich, oft ohne den Bezug zur ursächlichen Frühgeburt herstellen zu können. 

Selbst wenn von Patient:innen beim Arztbesuch die Frühgeburt als mögliche Ursache für vorliegende Beschwerden in Betracht gezogen wird, teilen Hausärzt:innen die Überlegung meist nicht mit der Begründung, die Frühgeburt liege doch schon viel zu lange zurück. Damit stellt sich die Frage: Ab wann ist sind Frühgeborene keine Frühgeborenen mehr? 

Die Tatsache der zu frühen Geburt und die daraus resultierenden Begleitumstände wird ja nicht durch zunehmendes Alter aufgehoben…

Die aktuelle Studienlage kann dazu einiges erklären, da sich Langzeitstudien mit den aktuellen Gesundheits- und Lebensumständen Erwachsener mit Frühgeburtshistorie beschäftigen und immer neue Erkenntnisse erbringen. Diese sind eine gute Grundlage, der Allgemeinmedizin zu besserer Diagnosesicherheit und passenden Gesundheitsangeboten zu verhelfen, was Patient:innen wiederum zu deutlich schnellerer Besserung ihres Gesundheitszustandes verhelfen könnte. Darüber hinaus spart das Gesundheitswesen Kosten für Therapien ein, die nicht das erhoffte Ergebnis bringen würden, da der Ansatz nicht der richtige ist. Eine Erfahrung ist beispielsweise, dass eher eine Traumatherapie als eine Psychotherapie in der Lage ist, entsprechende Beschwerden zu lindern.

Seit dem Jahr 2018 ist im Bundesverband der Arbeitskreis Erwachsene Frühgeborene (AKEF) entstanden, der stetig wächst. Mittlerweile haben sich mehr als 150 Betroffene hier registriert, tauschen sich zu ihren Erfahrungen und hilfreichen Maßnahmen aus und machen ihre Herausforderungen durch Öffentlichkeitsarbeit besser sichtbar. Unter ihrer Mitwirkung sind etliche Artikel in der Presse zu der Thematik erschienen, ein Informations-Video ist entstanden und ganz zeitgemäß sind einige Podcasts in Vorbereitung.

In Zusammenarbeit von AKEF-Mitgliedern mit medizinischen Experten wurde gerade die Broschüre „Mögliche Langzeitfolgen von Frühgeburt“ aufgelegt, die sowohl Mediziner:innen der Allgemein- und Familienmedizin als auch von Frühgeburt betroffene Erwachsene für die möglichen Langzeitfolgen sensibilisieren möchte. So können Zusammenhänge bestenfalls schneller erkannt und hilfreiche Therapien früher eingeleitet werden.

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