In letzter Zeit erreichen den Bundesverband zunehmend Pressemeldungen und Nachrichten aus der alarmierten Elternschaft. Der dramatische Tenor ist immer der gleiche: „Unser Perinatalzentrum Level 1 darf nicht schließen!“ Es wird zu medienwirksamen Mahnwachen aufgerufen und in der Elternschaft ehemaliger Patient:innen erfolgreich um Unterstützung im Rahmen von Petitionen geworben. Es droht der Verlust der bisherigen höchsten Versorgungsstufe Level 1 in einigen Kinderkliniken. Diese werden die für Anfang 2024 geplante Erhöhung der jährlichen Mindestfallzahlen von 20 auf 25 nicht schaffen. Was in der Diskussion beharrlich verschwiegen wird, ist der Umstand, dass eine Klinik, die die Level 1-Kriterien der höchsten Versorgungsstufe nicht mehr erfüllen kann, immer noch als sogenanntes Level 2-Zentrum oder Zentrum mit perinatalem Schwerpunkt eine deutlich größere Patientengruppe an Frühgeborenen versorgen darf.
Kein Land in Europa "leistet" sich soviele Perintalzentren der höchsten Versorgungsstufe (Level 1) wie Deutschland. Derzeit sind in ganz Deutschland laut der Webseite perinatalzentren.org 166 Level 1-Zentren gegenüber 44 Level 2-Zentren gelistet (Stand 28.9.2023). Wenn die Anzahl an Perinatalzentren der höchsten Versorgungsstufe ein Qualitätskriterium wäre, dann müsste Deutschland im europäischen Vergleich den niedrigsten Stand im Bezug auf die jährliche Säuglingsterblichkeitszahlen haben, denn verstorbene Frühgeborene tragen nicht unwesentlich zu der Höhe dieser Fallzahl bei, wie ein Blick in die Bundesauswertung der perinatalmedizinischen Daten in Deutschland belegt.
Säuglingssterblichkeit
Es lohnt sich hingegen, auf die Länder mit der niedrigsten Säuglingssterblichkeit zu schauen. Nordeuropa ist hier seit Jahren führend. Was machen Schweden und Finnland eigentlich anders als Deutschland? Nun, es gibt dort insgesamt deutlich weniger Krankenhausbetten in weniger Krankenhäusern; diese sind weiter voneinander entfernt und größer. Dafür werden viele Patiententransporte mit dem Argument in Kauf genommen, dass nicht nur das Betreiben eines Krankenhauses in einem dünn besiedelten Gebiet teurer ist als diese Transporte, sondern dass auch die Ergebnisqualität in den größeren Zentren besser ist. Diese mitunter „wohnortferne Versorgung“ in Finnland und in Schweden wird flankiert durch eine intensive soziale Betreuung der Patienten und gegebenenfalls der Familien: So sind Schwangere mit drohender Frühgeburt häufig etliche Zeit vor der Entbindung in einem Perinatalzentrum untergebracht, der Vater wird mindestens zeitweilig von der Arbeit freigestellt, und die Familie wird intensiv begleitet, so ein Bericht im Ärzteblatt aus dem Jahr 2015 (Dtsch Arztebl 2015; 112(1−2): A 18–20)
Mehr Infografiken finden Sie bei Statista
Auch die Müttersterblichkeit ist geringer als in Deutschland. Die Kaiserschnittrate ist mit 17 % nur knapp halb so hoch wie in Deutschland. Außerdem kommen in Schweden und Finnland signifikant weniger Kinder mit einem Gewicht von unter 2.500 bzw. 1.500 Gramm zur Welt.
Somit stimmt also die Gleichung explizit nicht, dass ein wohnortnahes, besonders dichtes und kleinteiliges Netz an geburtshilflichen und neonatologischen Kliniken epidemiologisch mit besonders guten Ergebnissen assoziiert ist. Das gilt für beide perinatalmedizinischen Teilbereiche, nämlich die mütterliche und die kindliche Versorgung: In Nordeuropa werden mit weniger Kliniken pro 100 000 Einwohner bessere Ergebnisse erreicht.
Emotional geführte Debatten um das Thema sind in diesem Zusammenhang fehl am Platz und haben im Ergebnis bereits dazu geführt, dass wertvolle Zeit ungenutzt verstrichen ist, in der Deutschland weiter im Mittelmaß herumgedümpelt ist, was die seit Jahren stagnierende Säuglingssterblichkeitquote betrifft. Es geht gerade nicht darum, kleinere Zentren per se abzuwerten und ihnen schlechte Arbeit zu attestieren. Der Wechsel von einem Level 1- zu einem Level 2-Zentrum ist alleine der dringlich notwendigen Strukturreform geschuldet. Wir brauchen neben guten Level 1-Zentren genauso gute Level 2-Zentren und Zentren mit perinatalem Schwerpunkt, damit Hochrisikokinder nach der anfänglichen Akutphase schon bald heimatnah zurückverlegt werden können. Das bedarf der konstruktiven und intensiven Zusammenarbeit der verschiedenen Versorgungsstufen in einer Region. Damit ist kooperatives Zusammenwirken gefragt, statt verbissener Debatten um den Erhalt von Level 1-Zentren.
Derzeit steht die sogenannte Versorgungspyramide noch auf dem Kopf, d.h. wir halten zu viele Level 1-Zentren für eine vergleichweise kleine, aber hochrisikobehaftete Patientengruppe vor. Dass es deswegen immer wieder dazu kommt, dass manche dieser Zentren nur mit Mühe die indiskutable Versorgungsuntergrenze von 20 erreichen und zukünftig bei einer Erhöhung auf 25 aus dem derzeitigen Versorgungsnetz ausscheiden müssen, liegt damit auf der Hand. Wir brauchen jetzt dringend sinnvolle Lösungen. Stationäre Kinder- und Jugendmedizin muss so vergütet werden, dass die Existenz einer Kinderklinik eben nicht vom Betreiben eines Level 1-Zentrums abhängt. Hier ist primär die Politik in Bund und Ländern gefordert.
Diverse Studien belegen zweifellos, dass der routinierte Umgang mit winzigen Hochrisikopatienten ein wesentlicher Aspekt für ihr möglichst gesundes Überleben ist. Diese Routine kann aber nur entstehen, wenn Ärzte- und Pflegeteam möglichst viele dieser kleinen Patienten versorgen. Dabei ist die Fallzahl 25 ein gerade noch vertretbarer Kompromiss, der der der Versorgungssicherheit geschuldet ist. Die derzeitige Fallzahl von 20, vormals sogar nur 14, ist hingegen nach einhelliger Expertenmeinung nicht akzeptabel. In den Bereichen Kinderonkologie oder -kardiologie ist ganz selbstverständlich, worum hierzulande nun schon seit Jahren erbittert gerungen wird – eine sinnvolle Zentralisierung mit erfahrenen Expert:innen in sogenannten wenigen hochspezialisierten Kompetenzzentren. Ja, das wird die Anfahrtsweg für manche betroffene Familien mitunter erheblich verlängern. Dafür können sie sich aber auch erfahrener Hände sicher sein.
Es gäbe Lösungen, die den Familien das tägliche Pendeln ersparen würden, z.B. am Kompetenzzentrum angegliederte Wohnbereiche für Angehörige und Sonderurlaub für Väter nach der Frühgeburt. In Schweden werden Schwangere bei drohender Frühgeburt zeitnah noch präpartal mit dem Helikopter in ein mitunter mehrere Autostunden entferntes Kompetenzzentrum verlegt. Den Preis für dieses unsägliche Versorgungsgerangel in Deutschand zahlen nach wie vor die Allerkleinsten und ihre Familien. Höchste Zeit, dass sich das ändert!